„Islam und Moderne stehen nicht im Widerspruch“

Prediger Fethullah Gülen im F.A.Z.-Gespräch

Fethullah Gülen gilt als der Erneuerer des Islams in der Türkei und als der geistliche Mentor der neuen anatolischen Elite. Für ihn lässt sich einiges im Islam auf Prinzipien der Moderne hin auslegen.

Im Ausland kennen ihn erst wenige, und doch ist sein Einfluss auf die Entwicklung der Türkei kaum zu überschätzen. Lange bevor Anatolien zu dem wirtschaftlichen Entwicklungsschub der vergangenen Jahre angesetzt hat und auch lange bevor die AKP Erdogans im Jahr 2002 erstmals an die Regierung gewählt worden war, hatte Gülen bereits einen Islam gepredigt und verbreitet, der den Muslimen den Anschluss an die Moderne ermöglichen sollte. Er wurde damit zum Erwecker Anatoliens und zur Stimme jener „schwarzen Türken“, also der Mehrheit der anatolischen Muslime, auf die die urbane Elite des Landes, die „weißen Türken“, lange meist nur mitleidig herabgeblickt hatte. Unter dem Eindruck der Lehren Gülens, der aus der Toleranz des gemäßigten Sufi-Islams schöpft, ist in Anatolien in den vergangenen Jahrzehnten aber eine dynamische Mittelschicht entstanden.

Die Anatolier waren ungebildet und provinziell, arm und fromm. Motiviert durch Gülens Lehren strebten sie nun nach Bildung und wurden wohlhabend, sie blieben aber weiter fromm. Gülen brachte ihnen die Bedeutung von Bildung und unternehmerischem Erfolg nahe, die Vereinbarkeit von Islam, Moderne und Demokratie, aber auch die Unvereinbarkeit von Islam und Gewalt. Er rief seine Anhänger auf, mit eigener Hände Arbeit Wohlstand zu schaffen und nicht zu vergessen, diesen auch unter Bedürftigen verteilen. In seinen Predigten verbindet er in langen Sätzen Suren aus dem Koran, Aussprüche des Propheten und die Erfahrungen der Mystiker mit den Erfordernissen der modernen Welt, er führt die Welt die Glaubens und der Lebenswirklichkeit zusammen.

Gülen wurde 1938 bei Erzurum geboren, und er knüpfte an den Lehren des bekannten Mystikers Nursi Said (1876 bis 1960) an. Der erste türkische Politiker, der regelmäßig seinen Predigten zuhörte, war der Reformer Turgut Özal (1927 bis 1993). Gülen unterhielt auch Kontakte zum Sozialisten Bülent Ecevit (1925 bis 2006). Viele oppositionelle Bewegungen haben den Kemalismus, die Ideologie der „weißen Türken“, herausgefordert. Da Gülen die kemalistische Elite wirkungsvoll in Frage stellte, erklärte sie ihn zum Staatsfeind. Daher ging Gülen 1999 ins Exil und lebt seither in den Vereinigten Staaten, wo er medizinisch behandelt wurde und als „religiöser Gelehrter“ eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hat.

Herr Gülen, Sie leben als einer der einflussreichsten Prediger der islamischen Welt seit mehr als zehn Jahren in den Vereinigten Staaten. Muslime werfen der westlichen Kultur Islamophobie vor, und Nichtmuslime kritisieren die Gewalt, die Muslime zur Verteidigung ihres Glaubens ausüben. Ist eine friedliche Koexistenz zwischen Muslimen und Christen möglich?

Ja. Die Ursache für die Gefährdung eines friedlichen Zusammenlebens von Muslimen und Christen ist, dass auf beiden Seiten Randgruppen in Erscheinung treten. Einige Muslime wahren bei ihren Reaktionen gegen die Angriffe und Diffamierungen der Werte, die der Islam als heilig erachtet, nicht das Maß; sie gehen zu weit. Dabei beabsichtigen die Initiatoren dieser Diffamierungskampagnen ja gerade, wie es ihren Verlautbarungen in den Medien zu entnehmen ist, die Muslime zu Ausschreitungen zu bewegen und so den Islam zu diffamieren. Einige Muslime, die nicht bemerken, dass es sich nur m die Taten einer Randgruppe handelt, beschuldigen darauf also die gesamte westliche und christliche Welt der Islamophobie. In der Folge rechnet die westliche Welt – verallgemeinernd – diese extremen Reaktionen der gesamten muslimischen Welt zu, ja sogar dem Islam. Die Muslime sollten nicht einzelne Vorkommnisse der gesamten westlichen Welt anzulasten. Andererseits kann und darf es im Westen ebenfalls nicht sein, einige extreme Reaktionen in der muslimischen Welt, die durch Provokationen hervorgerufen wurden, dem Islam und den Muslimen anzurechnen.

Wie steht es dann mit dem friedlichen Zusammenleben?

Im Islam gibt es keinen Wert, der ein Hindernis für das friedliche Zusammenleben mit Christen, Juden oder Angehörigen anderer Religionen und Überzeugungen wäre. Im Gegenteil. Es gibt Koranverse, Hadithe, also Aussagen des Propheten, und historische Erfahrungen, die gerade ein gemeinsames Leben ermöglichen sollen. Der ehrenwerte Ali sagte: „Die Muslime sind unsere Geschwister in der Religion, und die Nichtmuslime sind uns in der Schöpfung gleich.“ Dieser Satz des vierten Kalifen in einem Brief an den ägyptischen Gouverneur Malik bringt diese Wahrheit sehr deutlich zum Ausdruck. Wir haben den anderen in dessen Existenz zu akzeptieren. Möglich sein wird das Zusammenleben von Muslimen und Christen nur durch die Einrichtung einer Kultur des Zusammenlebens. Dazu müssen die Grundrechte und Freiheiten für alle verteidigt und geschützt werden. Beide Seiten haben sich gegenseitig zu akzeptieren, in der Situation des anderen, so dass den Provokationen so weit wie möglich kein Publikum geboten wird. Ereignen sich dann solche Dinge, lässt sich zivilisiert auf sie antworten.

Ein Hassfilm über Muhammad hatte in vielen Ländern der islamischen Welt Proteste ausgelöst, die teilweise von Gewalt begleitet waren. Was ist wichtiger Meinungsfreiheit oder der Respekt vor der Religion?

Das war ja nicht der erste Vorfall dieser Art. Nachdem es solche Vorfälle wiederholt gegeben hat, sollte man Vorkehrungen treffen, um Entwicklungen zu verhindern, die in Provokationen münden. Das machen der gesunder Menschenverstand und das gesunde Herz erforderlich. Wir sind gläubige Menschen. Der Islam zeigt gegenüber jeder Religion Respekt. Mit Respekt spricht unser Prophet über alle Propheten, beginnend bei Adam. In Bezug auf den ehrenwerten Moses sagte er: „Zieht mich Moses nicht vor!“ Sehr wichtig ist Empathie im Dienst einer respektvollen Begegnung mit den Gefühlen des Gegenübers. Über unseren ehrenwerten Herrn Jesus spricht unser Prophet sehr lobende Worte. Er deutet darauf hin, dass die Religion durch ihn wieder zum Wesen ihres eigentlichen Auftrags findet. Wir sind mit einer solchen Erziehung und Kultur aufgewachsen. Wir brauchen zunächst den Respekt gegenüber allen Religionen. Können die UN oder die EU in diesem Sinne ein Gesetz verabschieden, das uns den Respekt vor allem Heiligen abverlangt? Würde das aber nicht dem Recht auf Meinungsfreiheit widersprechen? Mir erscheint dieser Ansatz daher schwierig. Eher sollte man das Problem über die Erziehung der Menschen, über die Erziehung zu einem guten Charakter lösen. Das basiert auf ethischen Regeln. Juristische Regeln, Menschenrechte, Meinungsfreiheit vermögen nicht, diese Angelegenheit zu lösen.

Wie groß ist die Gefahr, dass salafistische Eiferer in der Welt das Bild vom Islam prägen?

Meinen Sie mit Salafisten jene Gruppen, die ihre antiwestliche Haltung mit Gewalt und Terror in die Tat umsetzen, so ist ihr negativer Einfluss auf die weltweite Wahrnehmung des Islams nicht zu leugnen. Dass einige Medien sich ganz auf diese extremen Randgruppen konzentrieren – statt auch das positive Verhalten der Mehrheit zu vermitteln – und sie immerzu einseitig ins Bewusstsein rücken, bewirkt leider, dass sich eine solche Wahrnehmung rasch ausbreitet. Aufgabe der Muslime sollte sein, diese Wahrnehmung zu brechen und die wahre muslimische Religion vorzustellen. Dazu müssen sie Sprache des öffentlichen Auftretens beherrschen und sich der Medien bedienen.

Manche im Westen argumentieren: Muhammad habe einen Staat gegründet, Jesus habe sich von der Politik aber fern gehalten, habe dem Kaiser gegeben, was des Kaisers ist. Ist das Erlangen weltlicher Herrschaft Teil der Lehren des Islams?

Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn in der in der islamischen Welt eine politische Ordnung auf islamischer Ethik, islamischen Disziplinen und islamischen Prinzipien basiert. Unserem Herr Jesus war mit seinen Jüngern nicht die Möglichkeit gegeben, einen Staat zu gründen. Andernfalls hätte wohl auch er eine Ordnung geschaffen, wie seine Vorgänger David und Salomon. Sie hatten einen Staat gegründet, das „Zeitalter der Könige“, wie es im Alten Testament heißt. Moses hat eine staatliche Ordnung geschaffen, auch Joshua. Daher besteht eine Verwandtschaft zwischen Jesus, dem Messias, mit Zacharias und Johannes, die ebenfalls nicht die Möglichkeit zur Gründung eines Staats hatten. Als später das Römische Reich unter Konstantin dem Großen das Christentum als Staatsreligion nahm, regierte es nach den Regeln des Christentums. Ja, unser Prophet hat zu seiner Zeit eine Staatsordnung aufgebaut; die Strukturen verfestigten sich aber erst nach ihm unter den vier rechtgeleiteten Kalifen. Jene waren rechtgeleitet, haben sehr richtig gehandelt. Das können wir nicht über alle Herrscher der Omayyaden sagen, genauso wenig über die der Abbasiden; das trifft auch nicht auf alle osmanischen Sultane zu und nicht auf alle islamisch-asiatischen Reiche. Wir können nicht sagen, dass unter den späteren Herrschern das Recht, die Gerechtigkeit, die Rechtleitung und die soziale Gerechtigkeit für alle Menschen gleichermaßen angewendet worden sind.

Aber sie haben sich dabei auf den Islam berufen, bei Selbstmordattentätern ist es ebenso.

Einige Herrscher ließen sich von Emotionen leiten, begingen Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten – und versteckten sich dann hinter dem Islam. Manchmal wurde versucht, das Morden mit dem Islam zu rechtfertigen. Heute wird das in noch brutalerer Art und Weise begangen. Lebende Bomben, Selbstmordattentate – und es sind unschuldige Menschen, die darunter leiden. Der Islam bezeichnet die Vergeltung einer schlechten Tat in der gleichen Art und Weise deutlich als unrecht. Letztlich sind die Grausamkeiten, welche Al Qaida oder die Hizbullah begehen, nichts anderes als die Verunglimpfung des sauberen Antlitzes des Islam. Sie kennen den Koran nicht richtig.

Aber sie führen doch Krieg und töten im Namen des Islams?

Auch in der westlichen Welt hat es sie gegeben: die Kriege um Kapital, Arbeit, Wohlstand. Bei uns werden sie angeblich im Namen der Religion geführt. Ich halte es jedoch für ausgeschlossen, dass es dabei um Religion geht. Persönliche Interessen spielen eine Rolle, das Ego der Menschen. Sie lassen im Namen der Religion morden. In Wahrheit sind es Morde gegen die Religion. Ein Professor, der auch Priester ist, fragte mich, ob es der feste Glaube an die Existenz von Hölle und das Paradies sei, was diese Menschen zu Morden und zu Selbstmordattentaten ermutige. Ohne zu zögern antwortete ich, diese Menschen gelangen nicht ins Paradies, sondern mitten in die Hölle. So etwas kann nicht im Namen der Religion sein. Im Namen der Religion darf man nicht töten, Recht und Gerechtigkeit übergehen, Sachen entwenden, die Religion als etwas Bestialisches zeigen. Das kann nicht mit der Religion rechtfertigt werden.

Wie kommt es, dass der Islam dann so verschieden ausgelegt wird?

Vieles ist offen für eine Auslegung und eine Exegese in der Zeit. Das kann mit den Bedingungen einer Zeit erklärt werden. Wir haben zum einen Grundprinzipien, zum anderen aber Interpretationen in einer Zeit, die auf diesen Grundlagen basieren. [Der mystische türkische Prediger] Bediüzzaman Nursi sagt, die Zeit sei der größte Exeget. Die Anforderungen ändern sich mit der Zeit. Wir nennen diese Auslegung Idschtihad. Wenn heute kein Idschtihad praktiziert wird, dann weil es an Menschen fehlt mit der entsprechenden Kompetenz und Qualifikation. Das Tor zum Idschtihad steht vollkommen offen. Berücksichtigt man die Zeit, die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen sowie die internationalen Verhältnisse, gibt es viele Gründe, weshalb ein Idschtihad durchgeführt werden muss. Wegen des Idschtihads gab es in der Vergangenheit Abspaltungen. Jemand sagte einmal: „Die Wege zu Gott sind so viele wie der Atem der Geschöpfe.“

Herr Gülen, Sie gelten als der Erneuerer des Islams in der Türkei und als der geistliche Mentor der neuen anatolischen Elite der Türkei. Kann der Islam modern sein – oder trifft zu, was Kritiker behaupten: dass die Moderne doch nur islamisiert wird?

Zunächst: Ihre Worte vom Erneuerer und der geistlichen Führerschaft akzeptiere ich nicht. Unstrittig ist, dass es zur Moderne – wegen der verschiedenen politischen, soziologischen, philosophischen und kulturellen Auslegungen und Anwendungen – keine eindimensionale Definition gibt, was ähnlich für den Begriff Demokratie gilt. In der Literatur zur Moderne werden Prinzipien genannt – wie die Bedeutung von Vernunft und Wissenschaft, die Befreiung der Individuen von der Macht anderer oder des Staats, die Glaubens- und Meinungsfreiheit, der Schutz der Menschenrechte, das Primat des Rechts und einer demokratischen Führung. Keines steht im Widerspruch zu den islamischen Werten. Setzen Muslime diese Prinzipien auf individueller oder staatlicher Ebene um, bedeutet es nicht eine Modernisierung des Islams. Vielmehr kann man von einer Auslegung der interpretierbaren Seiten des Islams in Richtung auf die Prinzipien sprechen, die zwar von der Moderne herrühren, den Grundprinzipien des Islams aber nicht widersprechen. Andererseits kann man nicht davon ausgehen, dass der Islam jene Ansprüche billigt, die man ebenfalls in den Auslegungen und Anwendungen der Moderne antrifft: etwa die rein materialistische Herangehensweise an den Menschen und den Kosmos, die Praktizierung des Laizismus als Religionslosigkeit, uneingeschränkte absolute Freiheiten oder die Behauptung vom Ende der Religion sowie ihre Ersetzung durch Vernunft und Wissenschaft. Andererseits ist es doch keine „Islamisierung der Moderne“, wenn Muslime der Moderne ihre eigenen Farben hinzugeben und zu einigen Fragen ihre eigenen Auslegungen entwickeln.

Der Atheismus breitet sich aber in Europa aus, und die Atheisten schätzen weder den Islam noch eine andere Religion. Wie kann ein Muslim in einer solchen Umgebung leben?

In Europa gibt es Atheisten und Deisten, auch in der Türkei und in Amerika. Menschen gehören anderen Religionen an, Christen betonen die Dreifaltigkeit. Die Realität zu sehen bedeutet, die Welt, die Menschen und ihre Gefühle richtig zu verstehen. Ich muss mit einer Empathie sprechen und handeln, mit der ich die Gefühle aller wahrnehme und auf sie Rücksicht nehme. So muss der Umgang mit Menschen sein. „Der wahre Gläubige ist jener Mensch, vor dessen Händen und Zunge die Menschen sicher sind“, sagte unser Prophet. Das Prinzip ist, niemandem zu schaden. Ob nun Atheisten, Deisten, Materialisten oder Naturalisten: Jeder Mensch ist zunächst ein Mensch, und der Mensch ist Gottes ausgezeichnetes Werk, und er ist wert, ihn zu respektieren. Das kann man für eine humanistische Betrachtungsweise halten: Der Respekt vor dem Menschen kommt an erster Stelle. Gott sagt im Koran: „Wir haben den Menschen in schönster Form geschaffen.“ Der Koran berichtet, dass sich die Engel vor unserem Herrn Adam niedergeworfen, sich vor ihm verbeugt haben. Das zeigt die Erhabenheit des Menschen, seine Heiligkeit. Daher gebührt jedem Menschen Respekt.

Sie rufen also dazu auf, den Anderen zu respektieren, wie er ist?

Uns wurde aufgetragen, jeden Menschen entsprechend seiner Wirklichkeit zu akzeptieren und diesem gegenüber respektvoll zu sein. Erwartet man Respekt, darf man nicht versäumen, auch dem Nächsten Respekt zu erweisen. So muss man sich auch gegenüber Atheisten verhalten. Schließlich ist er ein Mensch, und man muss Menschen umarmen. [Der türkische Mystiker] Mewlana, der vor mehr als sieben Jahrhunderten in Anatolien ein erhabener Meister für Toleranz und Dialog war, hatte gesagt: „Komm, komm, wer Du auch bist, komm, zu welcher Religion du auch gehörst, komm!“ Und er öffnete sein Herz gegenüber jedem. Wenn Ihr euer Herz öffnet und ich euch umarme, dann werden Eure Hände nicht herunterhängen; auch Ihr werdet dann ein Bedürfnis empfinden, mich zu umarmen. Wir brauchen heute diese Haltung. In einer Zeit, in der tödliche Waffen großes Elend bringen, ist es eine wichtige Pflicht, die Wege des Friedens und des innigen Zusammenseins zu erforschen. Hat man Respekt für seinen eigenen Weg, erfordert das nicht, gegenüber der anderen Seite respektlos zu sein. Nicht respektieren darf man aber einige Verhaltensweisen. Das kann Muslime betreffen, Christen, Atheisten, Deisten. Ist der Mensch grausam oder bestialisch, vergießt er Blut, begeht er Unrecht, verzehrt er das Recht der Menschen: Dann zerstört er die hohe Moral. Will der Menschen gegen etwas vorgehen, sollte er es gegen solche negativen Eigenschaften tun. Er sollte versuchen, soweit er dazu imstande ist, diese zu beseitigen, und zwar mit Erziehung, Vermittlung von Bildung und gutem Benehmen, indem man die Wege des Friedens erforscht und Dialog führt.

Sind fundamentale Errungenschaften wie Demokratie, Pluralismus und die Menschenrechte lediglich westliche Erfindungen – oder sind sie universal und können damit auch in islamischen Gesellschaften praktiziert werden?

Bei Demokratie, Pluralismus und den Menschenrechte hat es wichtige Fortschritte gegeben. Das sind aber keine Werte, die sich allein in der westlichen Welt und nur in moderner Zeit gezeigt haben. Wir sehen, dass es bei der Entwicklung der Demokratie viele unterschiedliche Anwendungen gegeben hat, dass Verbesserungen durchgeführt wurden, dass überprüft wurde. Der Begriff Demokratie wird mit Wörtern wie sozial, liberal, christlich, direkt, repräsentativ oder parlamentarisch verbunden, obwohl sich diese Eigenschaften teilweise gegenseitig ausschließen. Die Prinzipien, die die Fundamente der Demokratie sind, und die Regierungsform stimmen mit den islamischen Werten überein. Werte und Prinzipien, die der Islam wie auch die Demokratie akzeptieren, sind Beratung, Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, der Schutz der Rechte von Individuen und Minderheiten, das Recht eines Volkes zur Wahl seiner Regierung, die Verantwortung der Regierenden für ihre Tätigkeiten und die Unzulässigkeit der Herrschaft einer Minderheit oder Mehrheit über den jeweils anderen. Die allgemeinen Prinzipien des Islam zur Regierungsform sind also kein Hindernis für die Umsetzung der Demokratie. Sie bieten sogar eine geeignete Grundlage dazu.

Aber meist wurden sie in der islamischen Geschichte ja nicht angewandt. Weshalb?

Demokratie entwickelt sich evolutionär. Sie wird über die Zeit anders wahrgenommen, die Völker wenden sie unterschiedlich an. Es gibt Sozialdemokraten und es gab Kommunisten, die sich vielleicht als Demokraten bezeichnet haben. Man spricht von Christdemokraten, es kann auch muslimische Demokraten geben. Weil sich Demokratie wandelt, ist sie nicht vollkommen. Sie hat weiter nicht die Reife, die sie bräuchte, um auf alle materiellen, geistigen und seelischen Wahrnehmungen zu antworten. Sie entwickelt sich weiter. Ein Aspekt, der zur Demokratie gehören sollte, ist, dass der Mensch sich einen Raum für seine Bedürfnisse bezüglich des Jenseits schafft – ob er daran glaubt oder nicht. Er muss die Grundlage schaffen, dass er beten, fasten, zur Kirche, zur Synagoge gehen kann. Demokratie sollte auch diesen Dingen einen Raum geben, wenn sie umfassend und universell sein will. Sonst wird sie ein System, das lediglich entsprechend der Wünsche und Forderungen bestimmter Menschen funktioniert. Das würde einengen. Erlangt die Demokratie eine solche Größe, findet in ihr jeder für sich einen Platz. Vielleicht werden die Muslime eines Tages „muslimische Demokratie“ oder „religiöse Demokratie“ sagen. Der Mensch ist für die Ewigkeit geschaffen. Durch nichts findet er Befriedigung, außer durch die Ewigkeit. Das mögen einige nicht so sehen. Doch müssen auch die Gefühle der Menschen berücksichtigt und geachtet werden, die so glauben.

Wie sichern Sie die Menschenrechte?

Der Islam kennt fünf fundamentale Prinzipien: Leben, Besitz, Religion, Vernunft, Nachkommenschaft. Sie sind für die Menschenrechte maßgeblich; Koranverse, Sprüche des Propheten und nahezu alle autoritativen Rechtsentscheidungen stellen sie unter Schutz. Die vom Propheten erlassene Verfassung von Medina ist ein Beispiel. Dort sieht man die Verantwortung, die Rechte und Freiheiten von Muslimen und von Nichtmuslimen. Islam hat jeden dieser fünf Prinzipien als wichtiges Prinzip deklariert. Die islamische Jurisprudenz und das Leben der Muslime haben sich um diese Prinzipien organisiert. In Bezug auf den Schutz der Nachkommenschaft kann viel nachgedacht werden. Darf man Abtreibung zulassen? Es betrifft das Kind ebenso wie die Eltern. Haben wir ein Recht darauf, sein Recht zu verletzen?

Noch einmal zum Anderen. Lässt der Islam ihn wirklich zu und akzeptiert damit Pluralismus?

Im Kern des Islams bestehen Prinzipien wie: Jeden in seiner Situation akzeptieren; gewährleisten, dass jeder die Rechte und Freiheiten vor dem Gesetz als gleicher Bürger genießen kann, solange die Rechte und Freiheiten anderer nicht beschnitten werden; gewährleisten, dass ein bestimmtes Glaubenssystem oder eine bestimmte Lebensweise nicht durch die Politik aufgezwungen wird; gewährleisten, dass niemand wegen ethnischer, kultureller, religiöser oder ähnlicher Gründe gedemütigt und erniedrigt wird; es gibt das Prinzip, dass keiner einer Ungleichbehandlung ausgesetzt werden darf.

Aber schränken nicht mehrere Koranverse, etwa zu den Juden von Medina, das Recht des Anderen ein?

Aspekte für den Pluralismus und die Akzeptanz des anderen sind die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz, die Glaubensfreiheit, die Erziehung und Unterrichtung im Glauben. Die Prinzipien gelten, solange sie die Rechte anderer nicht beschneiden. Wenn einige Verse des gesegneten Koran dem auf den ersten Blick entgegengesetzt scheinen, muss man die Offenbarungsursachen dieser Verse genau im jeweiligen Kontext ansehen. Entscheidend ist, dass sich diese Verse nicht verallgemeinernd gegen die Personen und Gruppen richten, sondern gegen ihre Haltung und ihr Verhalten. Die islamische Religion hat ihre Beziehung zu den Christen, Juden und Polytheisten nicht auf den Glaubensunterschieden aufgebaut, sondern auf deren  Haltung und Verhalten. Bereits der Koran und die Sunna haben die Prinzipien des Zusammenlebens entworfen.

Ist der Islam tolerant – oder strebt er nach der Unterwerfung der Andersgläubigen?

Die Glaubensfreiheit ist in der muslimischen Religion ein Prinzip. Ich will das mit einem Beispiel aus der islamischen Geschichte verdeutlichen. Als der ehrenwerte Prophet zum Auszug von Mekka nach Medina rief, hatte es in Medina neben Arabern jüdische Stämme und einige Christen gegeben, auch Araber waren Juden oder Christen geworden. Die damals polytheistischen Araber zeigten ihnen gegenüber Respekt. Als Väter und Mütter dieser Kinder Muslime wurden, wollten sie ihre Kinder zwingen, ebenfalls Muslime zu werden. Darauf wurde ein Koranvers herabgesandt, der besagt, dass es in den Fragen der Religion keinen Zwang geben dürfe, dass die Religion ein göttliches Angebot sei, dass die Menschen dieses Angebot nur mit ihrem freien Willen akzeptieren oder ablehnen sollten. Der Vers 2:256 untersagte also, den Kindern Zwang anzutun. Das islamische Prinzip ist, die Freiheit der Glaubensausübung – der Muslime wie der Nichtmuslime – unter Schutz zu stellen. Die jedoch unterschiedlichen Umsetzungen in der Geschichte müssen in ihrem eigenen historischen Kontext gesehen werden. Jedes Ereignis muss innerhalb seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Umstände bewertet werden.

Welche Rolle spielt in Ihrem Denken die Frau?

Frauen können nahezu alle Rollen übernehmen, sie können Richtern und Staatsoberhaupt sein. Zu beachten sind zwar die Natur der Frau und religiöse Empfindlichkeiten. Die Rolle der Frau ist aber nicht auf die Beschäftigung zu Hause und auf das Großziehen der Kinder beschränkt. „Die Frau im Islam“ gehört zu den Themen, die im Westen negativ und am häufigsten behandelt werden. Der Grund ist, dass die Muslime Dinge praktizieren, die den Grundwerten des Islams widersprechen. Einiges, was negativ erscheint, muss man im Zusammenhang mit den Bedingungen der jeweiligen Epochen und Staaten bewerten. Zudem herrschen in einigen Regionen und Gesellschaften weiter Gewohnheiten und Traditionen, die es vor dem Islam gegeben hat und die weitergeführt werden. Das dem Islam anzurechnen, ist nicht richtig. Für die muslimische Religion ist es aber niemals zulässig, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihren Handlungsspielraum einzuschränken. Die Muslime missachten dies leider. Ein grobes Verständnis und ein plumpes Denken hat damit das System zerstört, welches auf der gegenseitigen Hilfe von Mann und Frau sowie auf das gemeinsame Teilen aufgebaut war. Mit dieser Zerstörung wurden auch der Familienfrieden und die gesellschaftliche Ordnung zerstört.

Sind Mann und Frau gleich?

Auch die die Frau ist eine freie und eigenständige Persönlichkeit. Ihre Weiblichkeit hebt keine der Qualifikationen auf, die sie besitzt, verengt sie auch nicht. Wenn eine ihrer Rechte berührt wird, kann sie, wie die Männer, ihre Rechte einfordern. Besitzt sie, was jemand anderes hält, kann sie es zurückholen. Muslime unterschiedlicher Völker hatten ihren historischen Erfahrungsschatz mit dem Kleid des Islam gekleidet, sie präsentierten ihre Gewohnheiten und Traditionen, als gehörten sie zu den Grundlagen der Religion. In dieser Richtung gab es auch einige theologische Gutachten, Idschtihads. So wurden die Rechte der Frau veräußert, von Tag zu Tag wurde sie in einen immer engeren Bereich gedrängt und sie wurde, ohne zu erfassen, wohin das Ganze hinausläuft, in einigen Gebieten wurde sie sogar ganz aus dem Leben ausgeschlossen. Einen Unterschied der Frau zum Mann gibt es bei keinem der Themen, die die Grundprinzipien des Islams betreffen – etwa bei der Glaubens- und Meinungsfreiheit, den Besitz- und Verbraucherrechte, der Gleichheit vor dem Gesetz, dem Recht auf eine gerechte Behandlung vor dem Gesetz, dem Recht auf Heirat und der Gründing einer Familie, dem Recht auf Intimität und die Unantastbarkeit der Privatsphäre. Wie bei Männern stehen auch ihr Besitz, Leben und ihre Sexualität unter Schutz. Wer das verletzt, dem drohen schwere Strafen.

Welche Stellung sollte die Frau sie in Ihrem Netzwerk haben?

Die in der Bewegung aktiven Frauen üben, indem sie der Menschheit zur Hilfe zu stehen, wichtige Aufgaben aus. Sie schöpfen, wie die Männer, die Möglichkeiten aus, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie sind mit ihrer Haltung und ihrem Verhalten ein Vorbild. Entsprechend ihrer Ausbildung und Erfahrungen setzen sie, auch in leitenden Positionen, die ihnen obliegenden Pflichten um, und sie reisen, ist es erforderlich, in alle vier Himmelsrichtungen. Auch wenn wir im Vergleich zu früher enorme Wege zurückgelegt haben, ist die Partizipation der Frauen in der Gesellschaft und in der Bewegung nicht dort, wo wir sein müsste. Sie hat das gewünschte Niveau nicht erreicht.

Herr Gülen, Sie leben seit mehr als zehn Jahren in den Vereinigten Staaten. Aus welchem Grund? Wollen Sie in die Türkei zurückkehren?

Erstens bin ich wegen meiner gesundheitlichen Probleme nach Amerika gekommen. Freunde, die sich um mich und meine Gesundheit sorgen, hatten darauf beharrt. Die Ärzte rieten mir, meinen Aufenthalt zu verlängern. Ich war zudem, zweitens, durch haltlose und falsche Publikationen gegen meine Person zahlreichen Verleumdungen und Diffamierungen ausgesetzt. Um sie richtigzustellen, habe ich den Rechtsweg eingeschlagen. Da sich das fern von mir abspielt, werde ich hier von solchen belästigenden Dingen weniger beeinflusst. Drittens habe ich weiter die Sorge, dass meine Rückkehr in die Türkei von einigen Kreisen zum Anlass genommen werden würde, die demokratischen Errungenschaften umzukehren. Obwohl ich so sehr in die Türkei zurückkehren möchte, werde ich es nicht tun, solange sich meine Bedenken nicht verflüchtigen.

Die Regierung der AK Parti hatte in ihren ersten Jahren zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht, dieser Elan ist verschwunden. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ministerpräsident Erdogan und der AK Parti, die ja eine islamisch-konservative Partei ist?

Die derzeitige Regierung hat im Namen der Demokratisierung viele Reformen verwirklicht. Unser Wunsch ist, diese Errungenschaften noch viel weiter zu führen. Ich habe mein ganzes Leben lang zu allen Parteien den gleichen Abstand gehalten, das gilt auch für die AK Parti. Wenn ich in der Vergangenheit und der Gegenwart Handlungen von Parteien unterstützt habe, war das keine Unterstützung für die Partei, sondern für die Demokratisierung oder für Handlungen, die mit den Werten übereinstimmen, an die wir glauben. So habe ich im Jahr 2010 unser Volk motiviert, in einem Referendum den Verfassungsänderungen zuzustimmen. Für mich war sehr wichtig, dass unser Volk erstmals in der Republik aus eigenem, freien Willen die Verfassung ändern konnte. Wären diese Änderungen nicht in der Amtszeit der AK Parti, sondern bei einer von der CHP geführten Regierung zur Wahl gestellt worden, hätte ich sie ebenfalls unterstützt. Zu Ministerpräsident Erdogan: Ich kannte ihn, als er Oberbürgermeister von Istanbul war. War sahen uns von Angesicht zu Angesicht vielleicht ein, zwei Mal. Seit ich in den Vereinigten Staaten bin, haben wir uns nicht mehr getroffen. Bisher habe ich lediglich, entsprechend meiner demokratischen Rechte und meiner Verantwortung als einfacher Bürger, auf verschiedenen Wegen sowohl dem Ministerpräsidenten wie auch früheren Staatsmännern bei einigen Themen meine Ansichten und Überzeugungen mitgeteilt.

Wie halten Sie von Pennsylvania aus Kontakt zu Ihren Schülern und zu den Mitgliedern des Netzwerks, das in Ihrem Namen entstanden ist?

Ein einfaches, zurückgezogenes Leben entspricht meinem Gemüt im Alter immer mehr. Ich möchte die letzten Abschnitte meines Lebens mit Gebeten zum Herrn verbringen. Vor uns liegt ein ewiges Leben. Mit dem Alter denkt man noch mehr nach über das diesseitige Leben, den Tod und das Leben danach. Mein Alltag wird bestimmt durch tägliche Leserunden mit einigen theologischen Absolventen. Ich beantworte ein- bis zweimal in der Woche Fragen, die an mich gestellt werden. Die Kollegen und Freunde veröffentlichen sie anschließend auf einer Webseite. Lässt es mein gesundheitlicher Zustand zu, empfange ich meine Gäste, die sich die Mühe gemacht und einen langen Weg hierher zurückgelegt haben, und führe mit ihnen einen konstruktiven Meinungsaustausch.

Wie erklären Sie sich, dass Sie als Prediger und in der Nachfolge von Bediüzzaman Nursi in diese zentrale Führungsrolle für die türkische Gesellschaft hineingewachsen ist?

Wenn Sie sagen, ich sei der Nachfolger von Bediüzzaman – das mag das Ergebnis Ihrer guten Absicht sein – sage ich Ihnen: Das trifft nicht zu. Das bedeutet keineswegs, dass ich die Werke Bediüzzamans nicht lese. Im Gegenteil: seine Werke sind eine meiner wichtigsten Quellen. Zum Stichwort „führende Persönlichkeit der türkischen Gesellschaft.” Mein Leben lang habe ich nach einem Dasein als ein guter Muslim unter anderen gestrebt. Nie war es meine Absicht, aus der Menge herauszuragen, geschweige denn eine führende Persönlichkeit zu werden. In meinen Predigten, Vorträgen, Konferenzen, Aufsätzen und Büchern habe ich stets versucht, als jemand aus dem Volk aufzutreten. Es ist der guten Absicht der Menschen zu verdanken, dass sie mir eine besondere Sympathie und einen besonderen Stellwert zukommen lassen. Ich sehe es aber als eine große Ungerechtigkeit, dass diese wunderbaren Taten und Errungenschaften einer einzigen Person zugesprochen werden, und er mehr Lobpreisungen erhält als er verdient.

Haben Sie eine Vorstellung, wie groß Ihre Gefolgschaft in der Türkei und weltweit ist?

Ich bin kein Führer, daher sollte es auch keine Anhänger geben, deren Anzahl ich kennen sollte. Mein höchstes Ziel ist es, als einer unter anderen Gott und den Menschen zu dienen und im Namen des Schöpfers und der Erschaffenen meinen religiösen und menschlichen Pflichten nachzukommen. Kreuzt sich mein Weg mit den Wegen anderer und teilen wir dieselben Ziele und Ideale, sollte dies keineswegs als eine Führung meinerseits aufgefasst werden. In der islamischen Literatur nennen wir das „Iktiran“, die unbeabsichtigte Zusammenfügung zweier Dinge oder Ereignisse. Es liegt nicht in unserer Hand, sondern in der Macht des Herrn. Daher habe und hatte ich niemals den Gedanken, dass ich Anhänger habe, auch nicht die Absicht, mich über ihre Anzahl zu informieren. Möge Gott mich vor solchen Fehlleitungen beschützen.

Die Bewegung, die sich auf Sie beruft nennt sich „Hizmet-Bewegung“, wobei Hizmet den Dienst am anderen bedeutet. Ist „Bewegung“ der richtige Ausdruck für die Gemeinschaft Ihrer Anhänger, zu der viele Millionen in der Türkei und weltweit zählen?

Die Anfänge der „Hizmet-Bewegung“ kann man als Gemeinschaft (cemaat) bezeichnen. Denken wir an alle jene, die sich heute mit „Hizmet“ mehr oder minder identifizieren – das sind Menschen unterschiedlichster Religion, Sprache und Kultur -, reicht dieser Begriff nicht mehr aus. Bei „Bewegung“ denkt man normalerweise an gesellschaftliche und politische Strömungen. Zu einer „Bewegung“ gehören Aktivitäten, Freiwillige, die diese Aktivitäten ausführen, und Institutionen, die von den Freiwilligen gegründet werden. Daher nenne ich das, was meinem Namen zugeordnet wird, entweder „Hizmet“, „Bewegung der Freiwilligen“ oder eine „Bewegung sui generis“. Eine passende, wenn auch lange Kennzeichnung lautet: „Die Bewegung von Menschen, die um erhabene menschliche Ideale zusammengefunden haben.”

Ein oft zu hörender Vorwurf an die Bewegung ist, dass sie eine islamistische Elite heranziehe, die heimlich den Umsturz, etwa in der Türkei, vorbereite. Die Bewegung sei untransparent, wie die Mafia oder ein Geheimbund organisiert, sagen Kritiker. Stimmt das?

Nicht einmal jene, die uns so etwas vorwerfen, glauben doch wirklich an solche Vorwürfe. Dass die Aktivitäten von „Hizmet“ mit einem Begriff wie „Islamismus“ gleichgesetzt werden, zeugt von Ignoranz. Entweder werden bewusst falsche Informationen verbreitet, oder diese Personen wissen weder was Hizmet ist, noch was Islamismus bedeutet. Auf der Gegenseite werfen andere Kritiker der „Hizmet-Bewegung“ Verrat am Islam vor, Knechtschaft gegenüber den Vereinigten Staaten und Israel, Propaganda für das Christentum und Judentum, eine geheime Kooperation mit dem Vatikan oder anderen religiösen Zentren. Ich bin 74 Jahre alt. Mein Leben und meine Werke stehen jedem offen. Nichts ist verborgen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe nicht versucht, ein Dorf unter meine Kontrolle zu bringen, geschweige denn Staaten. Die gegenstandslosen Anschuldigungen und die Gerichtsurteile dazu sind allseits bekannt. Mittlerweile habe ich nicht mehr die Kraft, über diese frei erfundenen Vorwürfe zu lachen. Ich bin nur traurig um jene, die solches behaupten. Außerdem finden die Aktivitäten von „Hizmet“ ja in aller Öffentlichkeit statt, mit Menschen aus allen Bereichen des Lebens, aus allen Nationen und Religionen. Die Aktivitäten der Institutionen sind von den staatlichen Behörden genehmigt und obliegen ihrer Kontrolle. Aktivitäten außerhalb dieser Institutionen im privaten und gesellschaftlichen Bereich geschehen auf der juristischen Grundlage der jeweiligen Staaten, welche darüber informiert sind. Ich würde gerne wissen, was daran untransparent ist.

Nehmen wir das Beispiel Schulen. Oft heißt es, das sei eine „Gülen-Schule“. Denn die Gründer und Träger einer Schule sind von Ihren Ideen inspiriert. Welchen Einfluss üben Sie über diese Schulen aus?

Mein Einfluss auf diese Schulen besteht höchstens darin, dass ich ihre Gründung angeregt habe und dass ihre Gründer und Leiter meine Ideen zum Thema Bildung beherzigen. Ich persönlich bin in keiner dieser Schulen Gründungs- oder Vorstandsmitglied oder habe sonst eine Zuständigkeit. Dass sie als „Gülen-Schulen“ bezeichnet werden, habe ich nie für richtig empfunden, und ich habe dem auch nie zugestimmt.

Herr Gülen, die Ihnen nahe stehende Bewegung betätigt sich in den fünf Bereichen Bildung, Medien, Dialog, Unternehmen und Wohltätigkeit. Zunächst eine Frage zur Bildung: Warum ist die „Hizmet-Bewegung“ vor allem in diesem Bereich aktiv? Wie viele Schulen gibt es in Deutschland und auf der Welt, die Ihren Vorstellungen entsprechen?

Alle gesellschaftlichen Probleme beginnen beim Menschen, und sie hören beim Menschen auf. Über die Bildung läuft der Weg, damit ein Mensch einen konstruktiven Beitrag zu seiner Familie, der Gesellschaft und der Menschheit leistet. Außerdem bin ich überzeugt, dass wir als Geschöpfe Gottes nur durch eine weltliche und spirituelle Bildung zur vollen individuellen Reife gelangen. Diese bescheidenen Ideen habe ich ein Leben lang in Moscheen gepredigt, habe sie in meinen Schriften und auf Konferenzen zum Ausdruck gebracht. Menschen, deren Streben Menschlichkeit ist und deren Nation die gesamte Menschheit ist, beweisen Patriotismus. Um ihrer Umgebung und der gesamten Menschheit zu dienen, gründeten diese Menschen zunächst in der Türkei und anschließend überall auf der sich globalisierenden Welt Bildungseinrichtungen. Sie unterstützen sie und engagieren sich für sie. Der Grund liegt in der zentralen Rolle der Bildung. Zur Anzahl der Schulen in Deutschland und anderen Ländern, die gegründet wurden von Menschen, die diese Bewegung auf die eine oder andere Weise in ihr Herz geschlossen haben: Ich hatte nie den Drang verspürt, ihre Anzahl festzustellen. Ich weiß es nicht.

Zu den Medien. Ihnen folgen in der Türkei Zeitungen wie Zaman und Fernsehsender wie Samanyolu, in den Vereinigten Staaten Ebru TV. Sind diese anders als die übrigen Medien?

Meine Grundsätze bei Medien sind: die Wahrheitstreue bei der Berichterstattung; das Bewusstsein der gesellschaftlichen Verantwortung bei der Veröffentlichung; die Notwendigkeit, einer breiten Palette von Meinungen eine Plattform zu bieten. Ich bin der Ansicht, dass Medien einen Beitrag leisten können, in der Gesellschaft eine demokratische und tolerante Kultur des gegenseitigen Respekts zu etablieren. Die Befugnisse zur Umsetzung dieser Überlegungen haben die Redakteure und Redaktionsleiter der jeweiligen Medien. Die Öffentlichkeit soll entscheiden, inwieweit es ihnen gelingt.

Ein großer türkischer Unternehmerverband beruft sich auf sie, und der Aufschwung Anatoliens ist eng verbunden mit dem Begriff der „anatolischen Tiger“. Welche Bedeutung haben für Sie Selbständigkeit und Unternehmergeist, welche Arbeitsethik lehren Sie?

Ich habe die Unternehmer, die mich wertschätzend besucht haben, immer dazu aufgerufen, einen aufrichtigen Unternehmergeist zu haben. Ich rate ihnen zu einem bedachtem Risikokalkül und ermutige sie, angemessen zu investieren und auch im Ausland zu expandieren. Ich rege sie dazu an, sich zu vernetzen und Unternehmerverbände zu gründen, erinnere sie auch stets an ihre soziale und gesellschaftliche Verantwortung. Ich rufe sie dazu auf, sich für Hizmet stark zu machen. Besonders in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich die Türkei der Welt öffnete, habe ich, wie viele andere, die türkischen Unternehmer motiviert, rund um den Globus zu investieren, bilaterale Wirtschaftsbeziehungen zu fördern sowie lokale Bildungs- und Wohltätigkeitsaktivitäten finanziell zu unterstützen. Aufgabe der Experten ist, über Unternehmensführung, die Volkswirtschaft, Gewinne und Entwicklung zu sprechen. Mein bescheidener Beitrag betrifft den religiösen Aspekt, er besteht aus einigen allgemeinen Richtlinien und ethischen Prinzipien – beispielweise dass sich die Unternehmer von Betrug, von Spekulationen, Schwarzmarkthandel und ähnlichem fernhalten, dass sie für Vertrauen und Sicherheit stehen, dass sie bei der Auskostung der Gaben Gottes nicht verschwenderisch und habgierig sind, dass sie die Rechte der Arbeiter respektieren, dass sie nicht vergessen, dass die Gesellschaft, in der sie leben, ebenfalls einen Anteil an ihren Gewinnen hat, und dass sie im Bewusstsein leben, dass letztendlich alles von Gott kommt.

In Ihren Lehren nimmt der Begriff des „Gottgefälligkeit“ eine zentrale Rolle ein. Hat das eine neue Arbeitsethik geschaffen?

Dem Begriff der „Gottgefälligkeit“ wird im Koran und in der Sunna des Propheten, auch in den Schriften großer islamischer Gelehrter, von Mevlana über Abdulkader Geylani bis zu Shahi Nakshibendi, sehr großen Wert beigemessen. Das Streben nach Allahs Wohlwollen ist auch ein Merkmal der eigenen Zufriedenheit mit Allah. Nach Wegen zu Allahs Wohlwollen zu suchen, ist eine äußert wertvolle Sache. Fixiert sich jemand darauf, erscheint im Vergleich dazu alles andere klein und zweitrangig. Man nehme an, die Menschen erschließen für sich das Universum, schaffen dort Lebensräume, das wäre ein grandioses Ereignis. Es gibt aber nichts, was das Wohlwollen Gottes übersteigt; Höheres kann es nicht geben. Danach sollte der Mensch streben. Ist dies der Fall, gibt es keine Grenzen mehr, die einen aufhalten können. Das Leben, das Hab und Gut – das wird zweitrangig. Um das Wohlwollen Gottes zu erlangen, kann man etwa hilfsbedürftige Studenten fördern und so der Menschheit dienen. Wird Hizmet im Bereich der Bildung betrieben, geschieht es, um Allahs Wohlwollen zu verdienen. Schmieden wir Stahl, backen wir Brot – und finanzieren mit dem Verdienst Schulen. Suchen wir Dialog, dienen wir durch Bildung der Menschheit, errichten wir Brücken für Frieden und Dialog: Geschieht das alles zum Wohlwollen Gottes, kennen die Anstrengungen kein Ende. Bis zum letzten Cent würde man alles dafür ausgeben, ohne zu zögern, sogar liebend gerne. Bindet man sein Handeln aber an vergängliche Ziele, etwa an politische Ämter, gelangt man zu einem Ende, sobald man dort ist. Im Grund ist dies ein Ausdruck der Endlichkeit. Das Streben nach Gottes Wohlwollen ist aber ein Ausdruck der Unendlichkeit. Das hält bis in alle Ewigkeit.

Weshalb legen Sie Wert auf karitative Arbeit, wo doch der Staat sozialpolitisch helfen kann?

In der Türkei wie in den westlichen Staaten gibt es staatliche Sozialprogramme, wobei sich über deren Erfolg diskutiert lässt. Allseits anerkannt ist bei Sozialprogrammen die ergänzende Rolle und Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen. Selbst die reichsten Staaten sind auf sie und auf Freiwillige angewiesen. Abgesehen davon betreffen gesellschaftliche Wohltätigkeitsaktionen auch Aspekte der gesellschaftlichen Verantwortung eines Muslims, der sozialen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Friedens. Den Bedürftigen zu helfen, ist religiöse und ethische Verpflichtung eines Muslims. Dass ein Muslim diese Verpflichtung komplett dem Staat überlässt, darf nicht der Fall sein. Zudem sind Hilfs- und Wohltätigkeitsaktionen ein Ansatz, aus unterschiedlichsten Gründen verursachte Spannungen und Anfeindungen innerhalb einer Gesellschaft zu beseitigen.

In Deutschland hört man häufig, dass Türken nicht bereit oder in der Lage seien, sich zu integrieren und Teil der deutschen Gesellschaft zu werden. Was raten Sie bei der Integration?

Die Integration hätte besser laufen können. Verantwortlich sind die Migranten, aber auch die europäischen Staaten. Die Migranten dachten lange nicht daran, sich in die gastgebende Gesellschaft zu integrieren, weil sie von der Rückkehr in ihre Heimat ausgegangen sind, zu der es nicht kam. Den Preis für diese Passivität haben sie und noch mehr ihre Kinder bezahlt. Aus demselben Grund haben auch die Gastgeberländer zunächst keine Integrationsmaßnahmen ergriffen. Sie waren nicht in der Lage, notwendige und integrationsfördernde Angebote und Möglichkeiten in den Bereichen Bildung, Politik, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft zu schaffen. Ferner haben sich die Herkunftsländer der Migranten nicht rechtzeitig und ausreichend um sie gekümmert. Heute tut sich auf beiden Seiten viel. Die europäischen Staaten haben in den letzten Jahren nachhaltige Integrationsmaßnahmen getroffen, um bestehende Hürden zu beseitigen. Die Migranten haben erkannt, dass sie in ihrem Gastland eine neue Heimat gefunden haben und investieren nun in die Bildung ihrer Kinder und Enkelkinder, bauen sich eine wirtschaftliche Existenz auf und ergreifen die Initiative. In diesem Rahmen leistet die Hizmet-Bewegung durch Bildungseinrichtungen und Sprachkurse einen akademischen, kulturellen und sozialen Beitrag zur Integration. Diese Einrichtungen setzen sich dafür ein, dass die neuen Generationen als teilhabende Bürger einen konstruktiven Beitrag für die Gesellschaft leisten, ohne ihre Herkunftskultur zu leugnen. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Perspektivewechsel und die damit verbundenen vielseitigen Integrationsbemühungen positive Früchte tragen.

Welche Entwicklung erwarten Sie in der arabischen Welt, nachdem mehrere Diktaturen gestürzt worden sind?

Nach dem Sturz langjähriger Diktaturen erwartet jeder, dass in den arabischen Staaten Demokratien entstehen. Über die Entwicklung demokratischer Strukturen entscheiden jedoch ideologische und kulturelle Aspekte, die Armee, das bürokratische und juristische System, die Medien, die Investoren, die Zivilgesellschaft, die globale Konjunktur und das Verhalten der Staatengemeinschaft. Nehmen wir das Beispiel Türkei. 1950 markierte den Übergang in ein Mehrparteiensystem. Dennoch hat die türkische Demokratie stark unter den Militärcoups gelitten, die alle zehn Jahre stattfanden. Bedeutende Fortschritte wurden in den letzten Jahren durch den EU-Beitrittsprozess und die Bestrebungen einiger mutiger Politiker erzielt. Von einer wirklich etablierten Demokratie kann noch immer nicht die Rede sein. Hoffen wir, dass die arabischen Länder nicht denselben langjährigen Prozess wie die Türkei durchmachen müssen und dass sie die Übergangsphase schnell(er) überwinden.

Können Sie Ihre Lehre kurz zusammenfassen?

Von einer Lehre, die meiner Person gehört, kann nicht die Rede sein. Ich kann lediglich einige Prinzipien aus den Quellen wiedergeben, aus denen ich gelernt habe, wie aus dem Koran und der Sunna des Propheten sowie Werken früherer Gelehrter und großer Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte. Solche Prinzipien sind: Wahrer Glaube; Menschenliebe; sich anderen Menschen nicht überlegen fühlen; die Liebe zu lieben und den Hass zu hassen; die Einheit von Herz und Vernunft; freies Denken; diszipliniertes Arbeiten; sein Glück im Glück anderer suchen; Aufopferungsbereitschaft; den Menschen helfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen; jeden akzeptieren, wie er oder sie ist; den freien Willen in vollem Maße für das positive Handeln nutzen; das Bewusstsein der sozialen Verantwortung; positives Handeln; den Frieden als Basis nehmen und Gewalt jeglicher Form ablehnen; Beachtung des gemeinsamen Verständnisses; ein Gleichgewicht zwischen Denken und Handeln herstellen. Ein Leben nach folgendem Hadith sollte angestrebt werden: „Der Beste unter den  Menschen ist derjenige, der anderen Menschen von größtem Nutzen ist.“
Die Fragen stellte Rainer Hermann.

Quelle: //www.faz.net/-gq5-74ukk