Der religiös begründete Extremismus verunsichert viele Bürgerinnen und Bürger. Er stellt eine Herausforderung für Eltern, Lehrer und Beschäftigte in der Jugend- und Sozialarbeit dar. Dieses Phänomen wirft eine Reihe von Fragen auf:
Warum geben junge Menschen ihr bisheriges Leben auf und folgen Extremisten, die zu brutaler Gewalt, Mord und Selbstmord aufrufen? Was sind die Ursachen der Radikalisierung von in Deutschland sozialisierten Jugendlichen? Warum schließen sich immer mehr Mädchen und junge Frauen extremistischen Bewegungen an? Welche Rolle spielen Online-Medien bei der Rekrutierung von Frauen? Was kann und muss die Gesellschaft dagegen tun oder ist sie diesem Phänomen hilflos ausgeliefert?
Die Erziehungswissenschaftlerin Sevdanur Özcan aus der Radikalisierungsprävention in Wuppertal greift diese und weitere Themen auf und steht im Diskussionsteil für die Fragen der Gäste offen.
Die Vortragsreihe nimmt Denkstrukturen, Ein- / Ausstiegsprozesse und weitere Aspekte von politisch- und religiös-extremistischen Strömungen in NRW in den Blick. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen diese Gruppierungen auf? Welche Rolle spielen Medien und Propaganda? Experten aus Theorie und Praxis tragen Thesen und Erkenntnisse vor.
Der sog. „Islamische Staat“ (IS) ist eine terroristische Gruppe, welche trotz unmoralischer und unmenschlicher Methoden zunehmend neue Mitglieder findet; insbesondere sind dies Jugendliche, darunter viele Mädchen. Dies stellt eine Herausforderung für Eltern, Lehrer und Beschäftigte in der Jugend- und Sozialarbeit dar. Das Phänomen wirft eine Reihe von Fragen auf:
Was sind die Ursachen der Radikalisierung von in Deutschland sozialisierten Jugendlichen? Warum schließen sich vermehrt Mädchen und junge Frauen extremistischen Bewegungen an? Welche Rolle spielen Online-Medien bei der Rekrutierung von Frauen? Was kann und muss die Gesellschaft dagegen tun? Gibt es Präventionsmöglichkeiten oder sind wir dieser Entwicklung hilflos ausgeliefert?
Im Ruhrgespräch mit Sevdanur Özcan vom 31.05.2016 wurden diese und weitere Fragen aufgegriffen. Es nahmen 15 Gäste teil. Frau Özcan ist Erziehungswissenschaftlerin und tätig im Bereich der Radikalisierungsprävention in Wuppertal. Da sie sehr praxisnah arbeitet, war ihr Vortrag fernab von Theorien und utopischen Lösungsvorschlägen. Er basierte auf ernüchternden Fakten, persönlichen Erfahrungen und Einblicken in die Praxisarbeit mit gefährdeten Jugendlichen.
Der Begriff Salafismus kommt aus dem Arabischen und bezeichnet eine ultraorthodoxe islamistische Orientierung an den „rechtschaffenen Altvorderen” (arab. al-salaf al-salih, d. h. die ersten drei Generationen des Islam) (Bundesamt für Verfassungsschutz). Salafisten sind sunnitisch geprägt und lehnen jegliche Art von kulturellem Einfluss und späteren Traditionen innerhalb der Religion ab (Bid’a). Anhänger des Salafismus behaupten, dass der „wahre“ Islam nur in der Zeit des Propheten Muhammad und den Generationen unmittelbar nach ihm praktiziert wurde.
Aus dieser streng orthodoxen Ideologie und der strikten Ablehnung anderer Lebensentwürfe folgt, dass Muslime, die in eine westliche und moderne Lebensweise integriert sind, von Salafisten und IS-Anhängern nicht als wahre Gläubige anerkannt werden. In ihren Augen sind sie ungläubig (Kuffar). Beispielsweise tragen sie aus Sicht von Salafisten falsche Kleidung: Farbige Kopftücher für Frauen sind genauso untersagt wie Hosen, Hemden und Krawatten für Männer. Statistiken zeigen, dass von 1,5 Mio. Muslimen, die in NRW leben, 2100 Salafisten sind. Bislang sind aus Nordrhein-Westfalen 200 Personen nach Syrien und in andere Kriegsgebiete ausgereist; 25% der Ausreisenden sind Mädchen und Frauen. Rückkehrer gibt es insgesamt sehr wenige, und diese sind allenfalls männlich.
Wie werben die IS-Mitglieder? Die Werbenden wirken souverän und charismatisch. Das geringe oder fehlende religiöse Wissen der Jugendlichen führt oft dazu, dass sie von der Propaganda beeindruckt und fasziniert sind. Die Werber erheben einen Wahrheitsanspruch und versprechen Klarheit in Bezug auf Gut und Böse, Richtig und Falsch. In ihrem Weltbild sind die Grenzen fest definiert. Zusätzlich kommen ein starkes Gemeinschaftsgefühl und eine höhere Zielsetzung hinzu. Ein Teil von etwas Großem zu sein und zu glauben, etwas bewegen zu können, motiviert die Jugendlichen. Manipuliert durch Verschwörungstheorien, beschuldigen sie die westlichen Gesellschaften für alle Missstände und identifizieren sich mit den Opfern in Krisengebieten des Nahen Ostens. Sie wollen für Gerechtigkeit sorgen, indem sie dem IS beitreten. Somit legitimieren sie auch ihre gewalttätigen Handlungen.
Das Profil der Jugendlichen scheint immer durch ähnliche Hintergründe geprägt zu sein. Rückschläge, Enttäuschungen und Krisen, welche persönlich, familiär, gesellschaftlich oder auch psychischer Natur sind, können der Grund für das Interesse am religiösen Extremismus sein. Dabei schließen sich diese Ursachen nicht gegenseitig aus, sondern wirken oft gemeinsam. Frau Özcan hebt in ihren Erläuterungen insbesondere das Merkmal der fehlenden Vaterfigur hervor, welches bei den meisten gefährdeten Jugendlichen zu beobachten ist. Damit sind nicht nur verstorbene oder abwesende Väter gemeint, sondern auch solche, die keinen Dialog mit ihren Kindern pflegen und trotz einer physischen Anwesenheit kein Interesse zeigen.
In letzter Zeit ist zu beobachten, dass die Zahl von Mädchen in der radikal-islamistischen Szene zunehmend steigt. Sie werden insbesondere in sozialen Netzwerken umworben. Terrorgruppen verfolgen das Ziel, Beziehungen über das Internet aufzubauen und Mädchen nach Syrien zu locken. Die jungen Frauen fühlen sich geborgen, möchten teilweise auch ein Abenteuer erleben und werden durch das Interesse von Männern dazu motiviert dem IS zu folgen. Somit kommt es tatsächlich immer häufiger zur Ausreise. Es gibt bislang keine weiblichen Rückkehrer aus Syrien. Den Grund hierfür erläutert Özcan folgendermaßen: „Viele Mädchen bereuen schnell ihre Reise nach Syrien. Jedoch ist es nach der Ankunft schon zu spät. Ihnen werden unmittelbar die Pässe abgenommen. Sie dürfen nicht mehr allein das Haus verlassen. Eine Flucht wird daraufhin fast unmöglich.“
Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es? Hierbei hat jeder eine Verantwortung. Nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer/innen, Bekannte und Freunde sollten stets aufmerksam sein. Eine schnelle, unerwartete Veränderung in Verhalten oder Aussehen können Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer extremistischen Szene geben. Dabei gilt eine religiöse Lebensweise (wie z.B. das tägliche Gebet) nicht als alarmierender Hinweis, wohl aber die Ablehnung und Verschmähung anderer Lebensweisen sowie die Befürwortung von Gewalt. Insgesamt muss nach Ansicht der Referentin darauf geachtet werden, keine Paranoia zu entwickeln. Jugendliche, die eine religiöse Bildung genossen haben und in einer Moschee sozialisiert wurden, reagieren in der Regel weniger anfällig auf die Propaganda des IS. Der Islamunterricht, so sagt Frau Özcan, sei daher wichtig, um das Unwissen der Jugendlichen zu beheben, die nie eine Moschee besucht haben.