Großes Interesse war für das Ruhrgespräch mit Dr. Michael Kiefer (Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück) am 11.10.2016 zu verzeichnen. 22 Gäste nahmen an seinem Vortrag über Islamismus, Salafismus und Neosalafismus mit anschließender Diskussion in unserem Vereinssitz teil.
Einführend nahm Kiefer Bezug auf vorherige Ruhrgespräche und hinterfragte kritisch, ob einzelne Faktoren (wie z.B. fehlende Vaterfiguren) tatsächlich zu einer Radikalisierung von Jugendlichen führten. In seiner Arbeit an der Universität Osnabrück sowie bei einem Jugendträger in Düsseldorf untersucht er Biographien und kommt zu der Erkenntnis, dass stets mehrdimensionale Ursachen zur Radikalisierung führen. Mindestens sechs oder sieben dieser Faktoren müssten zusammenwirken, damit der komplexe und vielschichtige Prozess einer Radikalisierung zustande komme.
Islam und Islamismus
Der Islamismus zeichnet sich durch einen Anspruch des religiös bestimmten Geltungsbereichs auf die ganze Gesellschaft aus, z.B. im Rechtssystem oder im Sozialleben. Hierin liegt der Unterschied zu einem spirituellen Islamverständnis. Der Islamismus ist aber nicht generell radikal oder gewalttätig, sondern unterscheidet sich in seiner Umsetzung zwischen verschiedenen Abstufungen. Beispielsweise verfolgte die AKP in der Türkei lange Zeit eine islamistische Orientierung, setzte aber hierfür legitime Mittel, wie politische Wahlen und Gesetzgebungen ein. Auf der anderen Seite gibt es extrem-islamistische Auffassungen, so z.B. bei der Terrorgruppe IS, deren Mitglieder die bestehende Ordnung ganz ablehnen und sich als Verwalter Gottes auf Erden betrachten. Somit haben für Anhänger dieser Terrormiliz auch Menschenrechte oder weltliche Vorgaben keinen Wert.
Salafismus
Der Begriff Salafismus war vor dem Jahr 2000 eher ein Fachbegriff in der Religionswissenschaft und diente nicht der Kennzeichnung einer Massenströmung wie heute. Der Begriff wurde erst mit dem Aufwachsen des ISIS (Islamischer Staat Irak und Syrien, damalige Bezeichnung des heutigen IS) medial aufgegriffen. „Salaf“ (ar.) bedeutet wörtlich „Vorgänger, Wegbereiter“ und bezeichnet die Gefährten des Propheten Mohammad der ersten drei Generationen. An dieser Stelle hat dies mit Radikalität noch nichts zu tun, sondern es handelt sich zunächst um ein spirituelles Bild. Beispielsweise sagte der bedeutende salafistische Gelehrte Muhammad Nāsir ad-Dīn al-Albānī (1914-1999), dass es die beste Form von Politik sei, gar keine zu machen. Stattdessen empfiehlt er in seinen Lehren die Läuterung und die spirituelle Besinnung. Auch heute gibt es apolitische Strömungen des Salafismus, so z.B. mehrere marrokanische Gemeinden in Düsseldorf.
Politischer Salafismus
Ab den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts traten zunehmend politische Auslegungen des Salafismus in Erscheinung. So gibt es seither einen Dschihadismus, der zum Kampf aufruft, unabhängig davon, wo und unter welchen Bedingungen man lebt. Man soll nach dieser Ideologie beispielsweise die Ungläubigen im Nahen Osten bekämpfen und somit die „Umma“ (Gemeinschaft aller Muslime) unterstützen. Dieser Gedanke ist also keineswegs neu.
Merkmale des Neosalafismus
Der Neosalafismus, wie er heute als neue Jugendkultur in vielen städtischen Gebieten wahrzunehmen ist, propagiert einen Pathos der strikten Einwertigkeit. Das bedeutet, dass sich die Teilnehmer dieser Bewegung stets in einem Haram-Halal-Diskurs befinden. Sie verfügen über ein dichotomes Weltverständnis. In der klassischen „Fikh“ (islamische Rechtswissenschaft) hingegen gibt es stets Grautöne: Gelehrte vertreten unterschiedliche Auslegungen und es ist nicht immer möglich, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Salafisten lehnen eine solche Auslegungsvielfalt der religiösen Quellen ab und sehen nur Schwarz oder Weiß. Für sie ist nur ihre eigene Auslegung die richtige, alle anderen sind nichtig. Die salafistische Szene verfügt über einen hohen Anteil an Konvertiten. Jedoch ist sie in erster Linie nicht als spirituelle Bewegung aufzufassen; Kiefer spricht von einem Eifererkollektiv. Salafisten sind bemüht den falschen „Din“ (ar. „Religion“, d.h. auch „falsche“ islamische Auslegungen) abzuschaffen. Es finden Bezichtigungsdiskurse statt, in denen alle Andersdenkenden als „Kuffar“ (ar. „Leugner, Ungläubige“) eingestuft werden. Somit wird auch ein interreligiöser Dialog abgelehnt und der Islam wird als einzig wahre Religion aufgefasst.
Salafisten vertreten eine dekulturierte Religionsauffassung, sprechen von einer „reinen Religion“, die von Kultur und lokalen Traditionen gereinigt ist. Sie leugnen eine Kontextgebundenheit der Koranverse und Hadithe (Überlieferungen des Propheten), proklamieren deren Allgemeingültigkeit, unabhängig von Zeit und Raum und verstehen somit die islamischen Quellen wortwörtlich. Der Wert des diesseitigen Daseins ist bei Teilnehmern der salafistischen Ideologie nichtig. Es gibt eine starke Jenseitsorientierung und eine stetige Androhung der Hölle. Das Ergebnis im Leben eines Ungläubigen ist nach ihrer Ansicht zwangsläufig der Untergang.
Attraktivität der neosalafistischen Ideologie
Die neosalafistische Szene bietet Jugendlichen einen festen transzendentalen Bezugspunkt und Orientierungshilfen. Oftmals bekommen Teilnehmer dieser Bewegung erstmalig einen geregelten Tagesablauf, haben einen ritualisierten Alltag und richten sich nach den Kriterien von Halal und Haram. Diese vereinfachte, reduktionistische Theologie sorgt bei den Jugendlichen für Klarheit und Eindeutigkeit im Gegensatz zu traditionellen, komplexen islamischen Lehren, die eine Vielzahl von Auslegungen zulassen und in Konkurrenz zueinander stehen.
Kiefer: “Ähnlich wie in der rechtsextremen Szene besitzen Teilnehmer neosalafistischer Gruppen das Selbstbild einer Avantgarde; sie sehen sich als Teil einer höheren Sache. Auf der Grundlage dieser Selbsterhöhung entsteht eine Selbstermächtigung, was zur radikalen Ablehnung der bestehenden Ordnung führt. Es kommt im Extremfall zur Auslebung von Macht- und Gewaltphantasien.”
Die Terrormiliz IS setzt ihre Taten professionell in Szene und propagiert eine sog. Hypermännlichkeit: Die Kämpfer werden in einem technisch aufwändigen Stil als „Löwen“ präsentiert. Entsprechende Bilder eines weiblichen Prototyps werden entworfen. Die Propaganda wird durch soziale Netzwerke, Webseiten und Presseorgane vermittelt.
Schließlich bietet die neosalafistische Szene ein enges Gemeinschaftsleben und Kameradschaft. Den Jugendlichen bietet diese Gemeinschaft einen emotionalen Zufluchtsort, ähnlich wie bei Sekten.
Prävention
Die Prävention muss sehr früh ansetzen, damit sie wirksam ist. Nachdem Anzeichen für ein Abgleiten in die extremistisch salafistische Szene zu erkennen sind, ist es meist schon zu spät. Es sollte innerhalb der Familie eine wohlmeinende, wachsame Sorge vorhanden sein. Dies bedeutet nicht, dass die Kinder rund um die Uhr überwacht oder eingesperrt werden sollen. Eher ist damit gemeint, dass man auch in schwierigen Zeiten an den Kindern festhält und sie nicht aufgibt. Bei Problemsituationen und Schräglagen sollten frühzeitig Beratungen herangezogen werden.
Was auffällt, ist dass Eltern mit Migrationshintergrund viel weniger Beratungen in Anspruch nehmen, weil es für sie schambeladen ist und sie nicht Fremden gegenüber eingestehen möchten, dass es ein Problem gibt. Daher muss man insbesondere in solchen Familien schon im Elementarbereich anfangen, Beratungen anzubieten und diese gemeinsam zu nutzen (Entwicklung frühzeitiger Supportsysteme). Für die Prävention ist es schließlich unerlässlich, den Jugendlichen Anerkennung zu zeigen und ihnen innerhalb der Familie Verständnis für ihre eigenen Lebensentwürfe entgegenzubringen.