Vortragsreihe: Barmherzigkeit in Christentum und Islam

Barmherzigkeit ist ein zentraler Begriff in der jüdisch-christlich-muslimischen Tradition. Damit wird sowohl eine Eigenschaft Gottes bezeichnet, als auch ein moralischer Anspruch an den Menschen formuliert. Das Bild der Barmherzigkeit ist sowohl mütterlich, wie väterlich geprägt und wird in Bibel und Koran in vielfältigen Zusammenhängen und Erzählungen dargestellt. Im Rahmen einer kleinen Reihe wird der Begriff betrachtet hinsichtlich seiner Bedeutung und Herkunft in den heiligen Schriften, seiner Entfaltung in der Theologie- und Glaubensgeschichte sowie der praktischen Bedeutung für das Leben als Muslim oder Christ. Dabei werden sowohl die Traditionen als auch das verbindende Verständnis des Begriffs beleuchtet. Neben einführenden Referaten wird das Gespräch mit den Teilnehmenden gesucht.
Termine

Mittwoch, 05.10.2016, 18:30 Uhr
Rahman, Rahim und die Barmherzigkeit des Vaters
Dr. Muhammed Akdag / Dipl.-Theol. Leonie Türnau

Dienstag, 08.11.2016, 18:30 Uhr
Barmherzigkeitsverständnis in der christlichen und muslimischen Tradition
Ülkü Özdas / M.A, Mathias Streicher

Dienstag, 06.12.2016, 18:30 Uhr
Praxis der Barmherzigkeit
Gökhan Atas (Helfen ohne zu warten) / Roswitha Paas (Sozialdienst katholischer Frauen Essen) [angefragt]

 

Anmeldungen telefonisch unter 0201 / 81 32 229 bzw. per E-Mail an info@ruhrdialog.org oder bildungswerk.essen@bistum-essen.de

Die Veranstaltungen sind kostenfrei.

Veranstaltungsort:
Katholisches Stadthaus
Bernestr. 5
45127 Essen

 

Zusammenfassungen

Teil 1
“Rahman, Rahim und die Barmherzigkeit des Vaters”

Unter der Überschrift „Rahman, Rahim und die Barmherzigkeit des Vaters“ eröffneten Dr. Muhammed Akdag und Diplom-Theologin Leonie Türnau die Vortragsreihe Barmherzigkeit in Christentum und Islam, die vom Katholischen Bildungswerk in Essen sowie unserem Verein veranstaltet wird.

 

Barmherzigkeit und die menschliche Natur

Akdag stellte den Begriff der Barmherzigkeit als Teil der menschlichen Natur im Islam und der Sunna vor.  Die Barmherzigkeit (misericordia, rahma) ist eine Eigenschaft des menschlichen Charakters und gilt als eine der wichtigsten Pflichten der monotheistischen sowie anderer Religionen. Barmherzigkeit beinhaltet Großherzigkeit und Mitgefühl und ist als das intensive Gefühl zu verstehen, sich in Notlage eines anderen zu versetzen, sich mit ihm zu identifizieren, gepaart mit einer Handlung, die aus der Not herausführt.

 

Barmherzigkeit im Islam

Ar-Rahman (ar. “Allerbarmer”) und Ar-Rahim (ar. “Allbarmherziger”) sind – vor allem in Kombination – die am häufigsten im Koran erwähnten Namen Allahs. Beide Namen stammen von der gleichen Wortwurzel ab und beschreiben die immerwährende Liebe Gottes, die dem Menschen zuteilwerden kann, wenn er sie annimmt. Beide Namen kommen in der Eröffnungs- und Anrufungsformel der Basmala vor, die (mit einer Ausnahme) vor jeder Sure im Koran steht und im Alltag der Muslime einen wichtigen Platz einnimmt. “Ar-Rahman” und “Ar-Rahim” erscheinen im Diesseits sowie Jenseits in verschiedenen Formen. Im Diesseits bieten sie Hoffnung für alle Menschen, sofern man Reue und Buße zeigt, sowie eine Grundlage für Nächstenliebe, Toleranz und Dialogbereitschaft, während sich die Barmherzigkeit im Jenseits in der Existenz des Jüngsten Gerichtes und des Paradieses zeigt. In der muslimischen Praxis äußert sich Barmherzigkeit insbesondere in der vierten der fünf Säulen des Islam, den Almosen.

 

Barmherzigkeit in der Sunna

In der Sunna finden wir verschiedene Hadithe zur Barmherzigkeit Gottes:

“Diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen.”

“Wer eine gute Tat vollbringt, wird zehnfach oder noch mehr belohnt und wer eine böse Tat begeht, wird nur für eine Sünde bestraft, oder es wird ihm vergeben. Und wer Mir um eine Armeslänge entgegenkommt, dem komme ich um zwei Armeslängen entgegen; und wenn jemand zu Mir geht, dem werde Ich entgegenlaufen; […]” (Muslim)

Barmherzigkeit: Bedeutung und Herkunft

Im zweiten Teil des Vortrags bot Leonie Türnau einen kurzen Einblick in die Etymologie des Begriffs der Barmherzigkeit. “Barmherzigkeit” ist eine Übersetzung des lateinischen Wortes misericordia (miser „arm, elend“ und cor „Herz“) und bedeutet so viel wie „das Herz beim Armen haben“. Im Hebräischen gibt es mehrere Begriffe für Barmherzigkeit: Rachamim (Erbarmen) ist abgeleitet von rechem (Mutterschoß), als Sitz der Emotionen. Die Begriffe chessed (Güte) und chanan (Gnade) gehen über die Gefühlsregung hinaus und umfassen eine freie, loyale Zuwendung. Rachamin und chessed finden sich im Neuen Testament unter dem Begriff eleos (Barmherzigkeit) wieder.

Im Griechischen wird der Begriff splanchnizomai als Mitgefühl mit den Menschen verstanden, abgeleitet aus einem Begriff, der für Mutterleib/Eingeweide steht.

 

Barmherzigkeit im Alten und Neuen Testament

Oftmals steht der alttestamentliche Gott der Rache dem liebendem Vater im Neuen Testament gegenüber, wobei die Barmherzigkeit Gottes nicht nur im Neuen Testament, sondern auch im Alten Testament Erwähnung findet, da viele neutestamentliche Stellen zur Barmherzigkeit das Alte Testament zitieren. Im Alten Testament heißt es beispielsweise: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue; Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.“ (Exodus 34,6-7)

Im Neuen Testament finden wir das Gleichnis vom verloren gegangenen Sohn bzw. dem barmherzigen Vater, welches die Grundaussage beinhaltet, dass Gott den verirrten Menschen mit Barmherzigkeit und Liebe begegnet und ihnen entgegenkommt. Und das ist auch die Aufgabe Jesu. Jesu sagt: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 9,13) sowie „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36).


Teil 2
“Barmherzigkeit in der christlichen und muslimischen Tradition”

Zum zweiten Teil unserer Vortragsreihe über die Barmherzigkeit in Christentum und Islam empfingen das KEFB und der Ruhrdialog 20 Gäste im Katholischen Stadthaus des Bistums Essen. Referentin für das Barmherzigkeitsverständnis in der muslimischen Tradition war Frau Ülkü Özdas, Referent für die christliche Perspektive war Herr Mathias Streicher.

 

Der Prophet als Quelle der islamischen Tradition

Özdas stellte einführend als Grundsatz fest, dass der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) in den islamischen Theologien gemeinhin als der gelebte Koran gilt. Er stellt mit seiner Person und seinem Leben die Quelle und Inspiration der islamischen Tradition dar. Der Prophet lebte im 6. und 7. Jahrhundert nach Christus im heutigen Saudi-Arabien, eine Zeit und Gesellschaft, in der der Sklavenhandel, Rassismus, die Unterdrückung von Menschen mit afrikanischer Herkunft, die lebendige Beerdigung von Mädchen (da diese als Schande für die Familie galten) und weitere gesellschaftliche Missstände einen Höhepunkt erreichten. Für heutige Standards mögen die Aussprüche des Propheten keine Außergewöhnlichkeit darstellen, da die Allgemeinen Menschenrechte und demokratischen Werte ähnliche Prinzipien festlegen. Für die damalige Zeit und Gesellschaft aber verfolgte Muhammad  neuartige Ansätze, die für viel Aufsehen sorgten. Er empfiehlt, nicht nur Menschen sondern allen Geschöpfen gegenüber barmherzig zu sein. Sein Erfolgsrezept war daher die Barmherzigkeit gegenüber allen Lebewesen. Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte: „Wer sich anderer nicht erbarmt, der wird auch kein Erbarmen finden.“ (Sahih Al-Buhari Nr. 6013) Daher ist dieser Auffassung zufolge die Auslebung einer umfangreichen Barmherzigkeit gegenüber der ganzen Schöpfung nicht nur eine Empfehlung, sondern eine Pflicht für jeden Muslim.

 

Der Dichter und Sufimystiker Mawlana

Mawlana Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī wurde 1207 im heutigen Afghanistan geboren und wanderte mit seiner Familie in die Türkei aus, wo er in der Provinz Konya lebte und wirkte. Mawlana ist der berühmteste Vertreter des Sufismus, d.h. dem mystischen Islam. Das Leben und Werk des Gelehrten war inspirierend sowohl für Muslime als auch Nichtmuslime. Denn er betonte in erster Linie die allumfassende Liebe Gottes. Nach seiner Philosophie wird das Sein nur durch die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes zusammengehalten. Das Universum ist seinem Verständnis zufolge in einer Harmonie erschaffen. Die Besonderheit in Mawlanas Arbeit ist, dass er seine Botschaften in Form von Dichtungen vermittelte somit bis heute viele Leute anspricht. In seinem berühmtesten Werk „Mesnevi“, dem Pfad zur Liebe, formuliert er sieben Ratschläge für die Menschen:

  1. Sei großzügig und hilfsbereit wie ein Fluss
  2. Sei mitleidig und barmherzig wie die Sonne
  3. Sei wie die Nacht beim Bedecken der Fehler anderer
  4. Sei wie ein Toter bei Wut und Erregung
  5. Sei bescheiden und schlicht wie die Erde
  6. Sei wie das Meer vergebend und nachsichtig
  7. Entweder zeig dich wie du bist, oder sei so wie du Dich zeigst

 

Bediuzzaman Said Nursi

Bediuzzaman Said Nursi (1876-1960) gilt für viele Muslime als wichtigster Gelehrter der Moderne und Stifter der Nurculuk-Bewegung. Nursi verbindet in seinen Lehren die moderne Wissenschaft mit traditionellen Lehren. Das Universum sei ein Buch Gottes, das man lesen kann. Alles funktioniert durch Barmherzigkeit. Ähnlich wie Mawlana herrscht in Nursis Verständnis eine universelle Harmonie, z.B. im Ökosystem vor. Die Frauen werden in seinen Werken als Helden der Barmherzigkeit bezeichnet. Doch es blieb nicht nur bei Worten, denn Bediuzzaman lebte in seinem Alltag die Barmherzigkeit vor. Als für ihne eine Unterkunft erbaut werden sollte, widersetzte er sich, weil sich auf dem Grundstück ein Ameisennest befand: „Man baut kein Nest indem man ein anderes zerstört.“

 

Fethullah Gülen: Bestrebungen nach Bildung und Dialog

Fethullah Gülen setzt Elemente der sufistischen Tradition in Verbindung mit den Lehren Said Nursis fort. Dabei legt er seine Schwerpunkte auf religiöse und moderne Bildung sowie Dialog. Die Hauptprobleme unserer Zeit identifiziert er als Ignoranz, Armut und Zerstrittenheit. Gülen steht für einen gelebten Islam. Doch wie kann man den Islam zum Leben erwecken? Die Antwort liegt für Gülen darin, die Barmherzigkeit Gottes zu erkennen und einen eigenen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Er hebt insbesondere eine wichtige Tugend hervor, die auch im Koran thematisiert wird und heutzutage in Vergessenheit geraten ist: „Isar“, einen anderen sich selbst vorzuziehen. Dieses selbstlose Verständnis äußert Gülen in seinem Prinzip: „Besser Leben geben, als sein eigenes Leben zu leben.“

 

Wie weit geht Barmherzigkeit?

Mit der Frage nach den Grenzen der Barmherzigkeit begann Mathias Streicher den zweiten Teil des Vortrags. Wie weit geht Barmherzigkeit und was passiert mit Sündern? Das sind Fragen, die schon immer den theologischen Diskurs beschäftigten. Im neutestamentlichen Verständnis überwiege der Glaube an eine grenzenlose Barmherzigkeit Gottes. Eine Vorstellung eines strafenden und strengen Gottes kam erst mit der Übertragung der Liebe Gottes in die Vorstellungswelten der europäischen Völker. Diese gingen davon aus, dass eine Gerechtigkeit auch eine entsprechende Bestrafung des Sünders erfordere. Wichtiger Vertreter dieses Ansatzes ist Anselm von Canterbury (1033–1109 n. Chr.). Er entwickelte in seinem Cur deus homo („Warum wurde Gott Mensch?“) die bedeutendste Formulierung der Satisfaktionslehre, welche einen Glauben nach ausgleichender Gerechtigkeit sowie eine Forderung nach der Bestrafung des Bösen beinhaltet.

 

Gnade Gottes als Weg zur Erlösung

Karl Barth (1886-1968) gilt als einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Der evangelisch-reformierte Barth lehrte u.a. in Wuppertal. Er erklärt, dass die Liebe Gottes lange Zeit in den Hintergrund trat. Aufgabe der Menschen sei es nun, diese Liebe hervorzuheben und den wahren Glauben zu leben. Im theologischen Diskurs wurde unter anderem das mechanische Bild der Waagschale am Jüngsten Gericht diskutiert. Aus reformatorischer Sicht ist es für uns Menschen nicht möglich, das Gewicht der guten Taten und Sünden gegeneinander aufzurechnen, da wir die wahre Gewichtung dieser vor Gott nicht kennen. Die reformatorische Theologie sagt: Allein die Gnade Gottes kann zur Erlösung führen; man kann sich keine Erlösung erkaufen.

 

Werke der Barmherzigkeit

In der Bibel werden verschiedene Werke der Barmherzigkeit aufgezählt, die der Gläubige ausleben soll. Sie gelten als Grundlage der christlichen Ethik und äußern sich auch in institutioneller Form  durch die Dienste, die die Kirchen ihren Gemeinden leisten.
Die geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind: die Unwissenden lehren, die Zweifelnden beraten, die Trauernden trösten, die Sünder zurechtweisen, den Beleidigern gern verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen, für die Lebenden und Verstorbenen beten. Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit sind: Hungrige speisen, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote begraben, Almosen geben.
Die Überlieferungen über den Heiligen Martin von Tours sind populäre Beispiele für die Ausübung dieser Prinzipien. Es wird weiterhin überliefert, St. Martin habe nach seiner Wohltat am Bettler Christus im Traum als Träger des geteilten Mantels gesehen.
Ein christlicher Maßstab ist daher, dass man den Geringsten so behandeln soll, als wäre es Christus persönlich. Dies entspricht dem Auftrag der Kirche: Die Armen und Schwachen sind erstes Subjekt der Verkündigung und sie müssen sowohl leiblich als auch geistig versorgt werden.

„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ – Mt 5,7


Praxis der Barmherzigkeit