Islam kompakt: Der Glaube an das Jenseits
Das Leben ist ein unbezahlbares Geschenk und der Tod eine unvermeidliche Tatsache. So haben sich die Gelehrten, Theologen und Philosophen seit jeher mit der Frage nach Leben und Tod beschäftigt. Was ist der Grund für unser menschliches Dasein? Warum gibt es überhaupt den Tod? Ist der Tod das Ende von allem oder erst der Anfang eines unendlichen Lebens? Auch der Islam beschäftigt sich mit diesen essentiellen Fragen der Menschheit, indem der Koran zu ein Drittel die Auferstehung (al-haschr) thematisiert. In dieser Veranstaltung soll dem Zuhörer ein Einblick in die Jenseitsvorstellung der Muslime gewährt werden. Vor allem in Anlehnung auf al-Ghazali (gest.1111) und Said Nursi (gest. 1960) wird auf Leben und Tod eingegangen. Von der islamischen Normenlehre bis zur Mystik werden zu diesem Thema unterschiedliche Herangehensweisen vorgestellt. Auch die Frage danach,ob ein Leben im Paradies nur Muslimen vorenthalten bleibt bzw. bleiben muss, könnte aus interreligiöser Sicht von großer Bedeutung sein.
Referent: Kadir Sanci, akademischer Mitarbeiter am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam, Imam des House of One
Zusammenfassung
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor […]
– Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808
Der Mensch ist neugierig. Wir wollen wissen und verstehen, aber teilweise sind uns die Hände gebunden.
Jede Seele kostet den Tod. […]
– Koran, 3: 185
Wir Menschen befinden uns in einem ständigen Prozess, in welchem wir den Tod fühlen und erleben und nicht nur einmal am Ende des eigenen Lebens. Der Tod wird erfahrbar in unserem Umfeld durch die Menschen, Tiere und Pflanzen sowie durch unsere Zellen, die sich ständig erneuern.
Der Tod ist eine biologische Tatsache, die die Menschheit seit Anbeginn beschäftigt. In diesem Zusammenhang beschäftigt sie auch folglich die Frage, was danach passieren wird.
Die Physik gelangt an seine Grenzen, wenn die Bewegung außer Kraft tritt. Nach der Verwesung des Körpers bleibt den Naturwissenschaften wenig Raum für ihre Forschungen. So ist es für viele Menschen verständlich, dass sie Antworten in der Metaphysik suchen. Nach Kant’scher Aussage ist die Metaphysik „eine Wissenschaft, die über die Grenzen der Natur hinausgeht.“
Philosophen, Theologen und Gelehrte unterschiedlicher Religionen haben sich mit diesem Thema beschäftigt. Im Koran wird zu einem Drittel das Leben nach dem Tod (al-hasr) neben der Einheit Gottes (at-tawhid), der Prophetie (an-nubuwwa), der Gerechtigkeit (al-adala) und dem Gottesdienst (al-úbudiyya) zu einer essentiellen Frage.
Hauptthemen des Koran
- Leben nach dem Tod (al-hasr)
- Einheit Gottes (at-tawhid)
- Prophetie (an-nubuwwa)
- Gerechtigkeit (al-adala)
- Gottesdienst (al-úbudiyya)
Der Tod
Das Hauptziel der islamischen Normenlehre ist es, die Grundrechte aller Menschen zu schützen, darunter fällt auch der Schutz des Lebens. Der Mensch darf somit im Normalfall weder über den eigenen Tod, noch über den Anderer entscheiden.
Ich habe die Dämonen und die Menschen nur deswegen erschaffen, damit sie mir dienen.
– Koran, 51:56
Die Herausforderung liegt darin, sich der göttlichen Prüfung im Leben zu stellen und schließlich mit einem von Gott herbeigeführten Tod diese zu besiegeln. Al-Ghazālī beschreibt den Tod als eine Zustandsveränderung und sagt, dass die Seele nach der Trennung vom Leibe bestehen bleibt.
Die Trennung der Seele vom Leibe bedeutet den Abbruch ihrer Verfügungsgewalt über den Körper, da der Körper nicht länger ihrem Befehl untersteht. Die leiblichen Glieder sind Werkzeuge der Seele, die sie benutzt, um mit der Hand zu schlagen, mit dem Ohr zu hören, mit dem Auge zu sehen und mit dem Herzen die wahre Natur der Dinge zu erkennen. […] Des Menschen wahre Natur besteht aber aus seinem Selbst (nafs) und aus seiner Seele (ruh), und diese bleibt bestehen.
– al-Ghazālī
Die Erinnerung an den Tod führt zu wohltätigen Handlungen.
– Alī ibn Abī Tālib
Der Tod ist ein hinreichender Warner, el Umar!
– Inschrift auf dem Siegelring von Umar ibn al-Chattāb
Im Koran und in den Überlieferungen (Hadithe) wird sehr detailliert über die Zeit nach dem Tod berichtet; über die Zeit des Einzelnen und über die Zeit der ganzen Schöpfung, über das Ende des gemeinsamen Lebens auf Erden und den Posaunenstoß.
Said Nursi widmete sich unter Rücksicht auf die Bedürfnisse der Muslime in der Moderne der Frage nach der Auferstehung. Einen Brief hierzu (1926) veröffentlichte er in seinem Gesamtwerk Risale-i Nur und nannte ihn das 10. Wort. Nursi spricht mit diesem Brief die fünf Stufen des Menschen an: die Seele (nafs), seinen Verstand (´aql), sein Gewissen (wiǵdán), sein Herz (qalb) und seinen Geist (ruh). Mit einer Parabel lässt er zwei Menschen in den Dialog treten und beginnt somit seine Abhandlung. Die Bild- und Sachebene helfen dem Leser, den Einstieg in das schwierige Thema zu finden. Er zieht Vergleiche aus der Ordnung und Gerechtigkeit in der Natur und erklärt auf diesem Wege die Notwendigkeit der Auferstehung. Mit Ähnlichkeitsvergleichen weist Nursi auf das ständige Sterben und auf die Wiederbelebung der Pflanzen im Frühling und erklärt die Auferstehung des Menschen für möglich.
In einem letzten Schritt nennt Nursi die bereits geschehenen Ereignisse (Wukuat) als Beweise für die möglichen Ereignisse in der Zukunft. Gott, der alles aus dem nichts erschaffen hat, ist dieser Argumentation zufolge in der Lage, mühelos alles wiederzuerschaffen. Dieser Teil kann als eine Auslegung der Koranverse 36:77-79 verstanden werden:
77. Sah der Mensch denn nicht, dass wir ihn aus einem Tropfen erschaffen haben? Und schon ist er ein klarer Gegner! 78. Ein Gleichnis prägte er für uns, vergaß dabei doch, dass er geschaffen ist. Er sprach: „Wer kann die Gebeine lebendig machen, wenn sie schon zerfallen sind?“ 79. Sprich: „Der macht sie lebendig, der sie ein erstes Mal erschuf. Wissen hat er von allem, was erschaffen ist.“
– Koran, 36:77-79
Die Auferstehung ist für Alte, sich dem Tod nähernde Menschen eine Hoffnung. Für Jugendlichen wiederum ist sie eine Warnung um ethisch- moralische Grenzen nicht zu überschreiten. Nursi erklärt den Nutzen der Auferstehung für die Familie in einer ewigen Vereinigung. Dieser Gedanke werde der Familie ein glückliches Miteinander im Diesseits bescheren.
Auch Fethullah Gülen nahm Ende 1977 eine wöchentliche, vier Monate andauernde Predigtreihe über die Auferstehung auf. Seine Worte können als eine Zusammenfassung, Auslegung und eine Weiterführung der Ausführungen von Said Nursi verstanden werden. Die Aufnahmen wurden später in einem Buch zusammengefasst und veröffentlicht. Die Ausformulierungen und Gliederungen ermöglichen es, Nursi besser zu verstehen.
Es wird ein Ende geben, der den Beginn eines Neuanfangs ausmachen wird:
Gott ist es, der die Himmel aufgerichtet hat, ganz ohne Stützen, die ihr sehen könnt, sich dann hoch oben auf dem Throne niederließ und die Sonne und den Mond dienstbar machte: beide laufen bis zur benannten Frist. Alles hat er in der Hand. Er legt die Verse aus. [Damit ihr Sicherheit erlangt], dass ihr eurem Herrn begegnen werdet!
– Koran, 13:2
Sahen sie denn nicht, dass Gott, der die Himmel und die Erde erschuf und bei ihrer Erschaffung nicht matt und müde wurde, die Macht hat, die Toten zu beleben?
– Koran, 46:33
Ja, der die Himmel und die Erde erschuf, hat der nicht die Macht dazu, zu schaffen ihresgleichen? O ja! Denn er ist der Schöpfer, der Wissende.
– Koran, 36:81
Seid ihr schwerer zu erschaffen als der Himmel? Denn den hat er erbaut.“
– Koran, 79:27
Beendet wird der Vortrag mit einem Zitat aus dem Koran, der von Muslimen traditionell rezitiert wird, wenn jemand verstorben ist:
„Inna lillahi wa inna ilayhi rajiun.“ (Transkription)
[…] „Siehe, wir sind Gottes, und zu ihm kehren wir zurück.“
– Koran, 2:156